Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.
—
Vorbemerkungen
Im Folgenden soll Steiners Begriff der Bewusstseinsseele in den Stadien seiner Entwicklung beschrieben werden. Im Hinblick auf die gegenwärtige spannungsreiche Lage der Forschung zu Leben und Werk des Begründers der Anthroposophie erscheint dabei eine Anmerkung zur Methode des Vorgehens geboten. Der Stuttgarter Philosoph Jörg Ewertowski macht darauf aufmerksam, dass sich eine aus kritischer Außenperspektive operierende ‚exoterische‘ Deutung ‚esoterischer‘ Tatbestände in einem Dilemma befinde. Sie unterwerfe ihren Gegenstand einem Erkenntnisverfahren, das die für ein gültiges Verständnis bis zu einem gewissen Grade unentbehrliche Identifikation mit der esoterischen Binnenperspektive strikt vermeiden muss und dadurch zu verzerrten Urteilen gelange.2 Ähnlich beleuchtet der durch eine umfangreiche biografische Studie3 als Sachkenner ausgewiesene norwegische Schriftsteller Kaj Skagen das gleiche Problem, indem er das verbreitete Steiner-Bild der Diskussion im Binnenraum der anthroposophischen Bewegung mit dem konkurrierenden Bild der derzeit als maßgeblich geltenden Strömung der akademischen Forschung konfrontiert, als deren Repräsentanten er Helmut Zander und den norwegischen Ideenhistoriker Jan-Erik Ebbestad Hansen betrachtet:
Das anthroposophisch korrekte oder fundamentalistische Bild Steiners als Heiliger hat sein Gegenstück in der gleichermaßen fundamentalistischen und psychologisch unglaubwürdigen Konstruktion eines ‚Steiner-Doppelgängers‘: ein Mann, der dem Original zum Verwechseln ähnlich sieht und sich für ihn ausgeben kann, der aber in Wirklichkeit ein ganz anderer ist.4
Skagen untermauert seine Auffassung mit einer Reihe prägnanter Stichproben und kommt zu dem Schluss: „Sowohl das anthroposophisch korrekte Heiligenbild als auch sein negatives Pendant, der Steiner-Doppelgänger, sind unsachlich und von Interessen geleitet.“5 Dem gegenüber befürwortet Skagen eine ‚Hermeneutik des Wohlwollens‘, wie er sie bei Christoph Lindenberg6 und David Marc Hoffmann7 sowie bei dem evangelischen Theologen Gerhard Wehr verwirklicht sieht, der mit der gleichen Einfühlsamkeit neben Steiner den Mystiker Jakob Böhme, den Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung und den Philosophen Martin Buber behandelt habe.8 Ähnlich plädiert Terje Sparby in seiner Untersuchung des von Steiner so genannten ‚imaginativen‘ Bewusstseins mit Bezug auf die von Neil Wilson beschriebene Methodik9 für eine einfühlsame Interpretation mit dem Argument, dass erst auf der Grundlage eines solchen behutsamen Vorgehens eine belastbare Kritik einer Idee oder einer Einstellung zu erreichen sei. Eine solche Hermeneutik des Wohlwollens bedeutet nach Sparby
durchaus nicht, dass man davor zurückschreckt, die problematischen Aspekte einer Konzeption anzusprechen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, weil gerade gegenüber der wohlwollendsten Auffassung einer bestimmten Idee oder Haltung die effektivste Kritik geübt werden kann.10
Skagen ergänzt sein Argument mit dem Gedanken, man müsse zunächst „dem Lebenslauf und dem Werk wie einer Erzählung zuhören, […] fast so, wie man sich in eine fiktionale Geschichte einlebt.“11 Diese Anregung korrespondiert mit der inzwischen gut bekannten Bemerkung Steiners über seine Philosophie der Freiheit: „Ich lehre nicht; ich erzähle, was ich innerlich durchlebt habe. Ich erzähle es so, wie ich es gelebt habe.“12 Ulrich Kaiser hat in seinen Studien zur Hermeneutik der Anthroposophie daran angeknüpft.13 Die vorliegende Betrachtung versucht diesem Ansatz zu folgen. Daneben bemüht sie sich, Äußerungen Steiners oder Tatbestände seines Wirkens nicht nur isoliert für sich zu betrachten und zu diskutieren, sondern mit Bezug auf den Gesamtzusammenhang seiner Ideenwelt und deren Entwicklung. Durchgehend wird versucht, die Wirkungen einzelner Motive auf die anthroposophisch orientierte Lebenswelt zu Lebzeiten Steiners und nach seinem Tode bis in die Gegenwart einzubeziehen.
Die Lehre von den Wesensgliedern des Menschen als Emergenztheorie im Rahmen der aristotelischen Tradition
Steiner trägt in seinem grundlegenden Werk Theosophie von 1904 ein Bild von den Wesensschichten des Menschen vor, das, auf den ersten Blick gesehen, an die bekannte Gliederung des Aristoteles erinnert: die Unterscheidung des physischen Leibes von den Phänomenen des Lebens, des empfindenden Bewusstseins und des selbstbewussten Geistes, der gegenüber Pflanzen und Tieren allein dem Menschen zukommt. Als anthropologisches Schichtenmodell fügt sich seine Wesensgliederlehre in eine gut erforschte Tradition ein, die mit Aristoteles begonnen hat, in der mittelalterlichen Scholastik differenziert und erweitert worden und im Lauf des 20. Jahrhunderts durch bekannte Autoren wie Nicolai Hartmann, Helmuth Plessner, Erich Rothacker und Max Scheler weiter vertieft worden ist.14
Steiner gehört zu diesem Traditionsstrom. Angeregt durch seine Beschäftigung mit der Organologie Goethes hatte er sich schon als junger Student innovativ darin betätigt, indem er die landläufige und zu seiner Zeit verbreitete Hoffnung, dass die Phänomene belebter Organismen als Wirkungen physikalisch-chemischer Prozesse erklärt werden könnten, grundlegend kritisiert hat. Nähert man sich Steiner von seinen Anknüpfungen an Goethe her, so lässt er sich aus heutiger Perspektive als Pionier der modernen Emergenztheorie verstehen, die darauf aufmerksam macht, dass auf jeder Stufe des Seins komplexere Phänomene auftreten, die sich nicht auf Elemente der jeweils niederen Stufe zurückführen lassen.15 So lässt sich Wasser elektrolytisch in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen, aber niemand kann die Vielfalt seiner Erscheinungen aus den Eigenschaften dieser Gase ableiten. Dass die Welt des Lebendigen gegenüber der mineralischen Welt eine höhere Emergenzstufe darstellt, war dem jungen Steiner in Wien bewusst, obwohl er weit davon entfernt war, den Sachverhalt nach heutigem Forschungsstand begrifflich zu fassen. Man kann z. B. die Metamorphosenreihe der anthroposophischen Wesensgliederlehre, die Steiner in seiner Theosophie von 1904 formuliert hat, als eine Stufenfolge solcher Emergenzen verstehen.
Steiner modifiziert in dem genannten Werk das aristotelische Schichten-Modell in Anlehnung an die ‚Prinzipienlehre‘ der anglo-indischen Theosophie,16 der er sich 1902 angeschlossen hatte. Dabei ging er von dem Begriff des menschlichen ‚Ich‘ aus, den er in seinen philosophischen Schriften vor 1900 entwickelt hatte, und indem er diesen in das theosophische Modell zu integrieren sucht, gelangt er zu seinem Bild der Seele zwischen Leib und Geist. In diesem Zusammenhang erscheint, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sein Begriff der Bewusstseinsseele.
Bisherige Beiträge zum Thema
Wie Jörg Ewertowski in einer ersten Monografie zum Thema gezeigt hat, ist Steiners Begriff der Bewusstseinsseele schon früh von Carl Unger17 und dann auch von anderen anthroposophisch orientierten Autoren aufgegriffen worden. Karl Heyer, Hans Erhard Lauer, Christoph Lindenberg und Jens Heisterkamp haben ihn im Rahmen ihrer Betrachtungen über die Geschichte der Neuzeit beleuchtet.18 Ewertowski beschreibt den Stand der Forschung im Jahre 2007, diskutiert im Einzelnen die Beiträge der hier genannten Autoren und zeigt anschließend, wie Vorformen des steinerschen Begriffs bei dem Kirchenvater Augustinus, bei Petrarca und bei Heinrich von Kleist aufzufinden sind.19
Günter Röschert sieht im Begriff der Bewusstseinsseele einen Schlüssel für die Bewältigung des Problems, dass der neuzeitliche Aufklärungs-Impuls alte Daseins-Sicherheiten erschüttert und tragende Wertvorstellungen radikal in Frage gestellt hat.
Im Lichte der Bewusstseinspsychologie Steiners zeigt sich das Janusgesicht der neuzeitlichen Aufklärung. Die Bewusstseinsseele ist auf reale Geistberührung hin orientiert. Der begrifflich bereits festgelegte, in Traditionslinien erstarkte, zur Ideologie entfremdete Geist kann den Triebkräften der Bewusstseinsseele nicht genügen. Radikale, ja vernichtende Kritik ist die Folge, es sei denn, dass im Einzelfall die Entzauberung des Geistes aus den ideologischen Fortifikationen gelingt. Im Widerspruch zu ihrer lichtvollen Namensführung bedeutet Aufklärung daher auch endgültige Verfinsterung der traditionellen Weisheit.20
In jüngerer Zeit ist ein umfangreiches, noch nicht ins Deutsche übersetztes geschichtsphilosophisches Werk des russischen Symbolisten Andrej Belyj (Boris Bugaeff) entdeckt worden, das den Begriff der Bewusstseinsseele auf originelle Weise entfaltet.21 Die Slavistin Angelika Schmitt schreibt darüber:
In den Rätseln der Philosophie gibt Steiner einen markanten Unterschied zwischen der Verstandes- und der Bewusstseinsseele an, der für das Verständnis des Bewusstseinsseelenphänomens in der kantischen Philosophie […] von besonderem Interesse ist. Danach zeichnet sich die Verstandesseelen-Zeit dadurch aus, dass das Denken als Wahrnehmung der Begriffe und Ideen erscheint, während diese in der Bewusstseinsseelen-Epoche als vom Menschen selbst hervorgebracht erlebt werden. Belyj greift diesen Gegensatz auf die ihm eigene Art auf und charakterisiert die Verstandesseele dadurch, dass sie ‚das Auftauchen des Gedankens unter der Gehirnschale der Person‘ bedeutet und sich durch ein räsonierendes, lineare Gedankenketten bildendes Denken auszeichnet. Das zentrale Merkmal der Bewusstseinsseele dagegen sieht er in ihrer ‚Tendenz zur Willensenergie im Denken‘. Der Denkakt wird hier zum ‚schöpferischen Imperativ‘, denn Erkennen im Sinne der Bewusstseinsseele bedeutet für Belyj, eine ‚Konstruktion möglicher Wirklichkeit‘ erschaffen.22
Hingewiesen sei auch auf den Sprachphilosophen und Historiker Owen Barfield, der das wissenschaftstheoretische Schlüsselwerk Steiners, das Buch Von Seelenrätseln, im angelsächsischen Sprachraum bekannt gemacht hat.23 In seinen Studien zur Bewusstseinsgeschichte vertritt Barfield im Sinne Steiners den Gedanken, dass sich die Menschheit aus einem Zustand des Einklangs mit ihrer Umwelt – er spricht von ‚Partizipation‘ – herauslösen musste, um zum Selbstbewusstsein zu gelangen, und dass gegenwärtig der alte Zustand wieder zu gewinnen sei, ohne die neue Ich-Erfahrung dabei aufzugeben.24 Als Hilfsmittel dafür betrachtet er Steiners Seelenkalender, eine Folge von Meditationssprüchen für jede Woche des Jahres.25 In seinen Essays über die Beziehungen zwischen der Verstandes- und der Bewusstseinsseele hebt Barfield die Todeserfahrungen der Shakespeare-Zeit in England besonders hervor. In Form einer poetischen Imagination lässt er die Genien Deutschlands und Englands miteinander tanzen und sich in Rede und Gegenrede austauschen:
As they meet, the Spirit of the German Nation calls across to the Spirit of the English: ‘Seek life! Know yourself! Go down with Faust to the Mothers, to the Eternal Feminine, go down into the teeming earth and rise again in full certainty, having found both yourself and the world. Take the confidence that is based on this knowledge. Know yourself! Seek life!’ And the English Folk-Soul calls back: ‘Seek death! Yes, know yourself and the world! Do not merely believe in the old way, substituting one creed for another. Rather live in the very breakdown of all belief. Even encourage your own opposition, as men do in games. Immerse in the destructive element! And so learn to tear your true self free from all thought and feeling in which the senses still echo. Leap, with Hamlet, into the grave, in order to wrestle there. Seek death!‘26
Es ist kennzeichnend für den gegenwärtigen Stand der Forschung, dass Helmut Zanders umfangreiche Studie Anthroposophie in Deutschland – wohl in Folge ihrer Konzentration auf die These, dass Steiners Anthroposophie im Wesentlichen auf die anglo-indische Theosophie Helena Petrovna Blavatskys und ihrer Schule zurückgehe – den Begriff der Bewusstseinsseele nur beiläufig erwähnt und sein Auftreten im Werk Steiners nicht weiter verfolgt.27 Wir betrachten dem gegenüber hier zunächst, wie Steiner diesen Begriff in den ersten Entwürfen seiner Lehre von den Wesensgliedern des Menschen erscheinen lässt.
Die Wesensglieder des Menschen im ersten Entwurf Steiners in ihrem Verhältnis zur theosophischen Tradition
Deutlich wird schon in dem ersten Entwurf der Theosophie von 1904, dass die drei Seelenteile, wie Steiner sie auffasst, in einem dynamischen Prozess der Metamorphose zu denken sind. Aus der Empfindungsseele, in welcher sich das menschliche Bewusstsein zu regen beginnt, werde durch die erwachende Denktätigkeit die Verstandesseele und aus dieser in einem weiteren Entwicklungsschritt die Bewusstseinsseele. In einem ersten Anlauf wird in der Erstfassung der Theosophie das dritte Seelenglied anfänglich definiert. Die Bewusstseinsseele sei „[d]as, was in der Seele als Ewiges aufleuchtet“, und sie sei „[d]er Kern des menschlichen Bewusstseins, also die Seele in der Seele“ (SKA 6: TH, 31). Im Jahre 1908, in der zweiten Auflage des Buches, fügt Steiner hinzu:
Die Bewusstseinsseele wird hier noch als ein besonderes Glied von der Verstandesseele unterschieden. Diese letztere ist noch in die Empfindungen, in die Triebe, Affekte usw. verstrickt. Jeder Mensch weiß, wie ihm zunächst das als wahr gilt, was er in seinen Empfindungen usw. vorzieht. Erst diejenige Wahrheit aber ist die bleibende, die sich losgelöst hat von allem Beigeschmack solcher Sympathien und Antipathien der Empfindungen usw. Die Wahrheit ist wahr, auch wenn sich alle persönlichen Gefühle gegen sie auflehnen. Derjenige Teil der Seele, in dem diese Wahrheit lebt, soll Bewusstseinsseele genannt werden. (TH, 31)
Daneben fällt auf, dass Steiner bei der Beschreibung des Zusammenwirkens der drei Seelenglieder und ihres Verhältnisses zu den Leibes- und den Geistgliedern einen Perspektivenwechsel zulässt. Je nachdem, welche Funktion man ins Auge fasst, könne man das Gefüge der Wesensglieder unterschiedlich sehen. In der theosophischen Tradition, an die Steiner im Jahre 1904 anknüpft, sind weder die Idee der Metamorphose noch die Vielfalt der Perspektiven zu bemerken, die Steiners Ansatz charakterisieren. Beides spricht dafür, dessen Entwurf als originäre Leistung zu verstehen, die sich eher aus dem Werdegang des Autors und aus seinen Auseinandersetzungen mit anderen Vorläufern erklären lässt als mit der gegenwärtig verbreiteten Auffassung, es handle sich um eine Adaption theosophischen Gedankenguts.
Eine erste Skizze des Gefüges der Wesensglieder, das den Begriff der Bewusstseinsseele einschließt, findet sich bei Steiner schon im Dezember 1903, einige Monate vor dem Erscheinen der Theosophie, in der von ihm redigierten Zeitschrift Luzifer, in einer Fußnote, die – wie dann auch in der Theosophie – ein siebengliedriges Modell in ein neungliedriges übergehen lässt:
Der Leib besteht aus: 1. dem eigentlichen Leib, 2. dem Lebensleib, 3. dem Empfindungsleib. Die Seele besteht aus: 4. der Empfindungsseele, 5. der Verstandesseele und 6. der Bewusstseinsseele. Der Geist besteht aus: 7. Geistselbst, 8. Lebensgeist, 9. Geistesmensch. Im verkörperten Menschen verbinden sich (fließen ineinander) 3 und 4 und 6 und 7. Dadurch erscheinen für ihn die neun auf sieben Glieder zusammengezogen, und man erhält die übliche theosophische Einteilung des Menschen: 1. der eigentliche Leib (Sthula sharira), 2. der Lebensleib (Prana), 3. der von der Empfindungsseele durchsetzte Empfindungsleib (Astralkörper, Kama rupa), 4. die Verstandesseele (Kama manas), 5. die vom Geistselbst durchsetzte Bewusstseinsseele (Buddhi manas), 6. der Lebensgeist (Buddhi), 7. der Geistesmensch (Atma).28
Christian Clement argumentiert gegen die simple Gleichsetzung der beiden Einteilungen. Er macht im sechsten Band der von ihm herausgegebenen Kritischen Ausgabe (SKA), in seinem einleitenden Kommentar zur Lehre von den Wesensgliedern des Menschen in der Theosophie darauf aufmerksam, dass sich die schon in der Erstauflage von 1904 verwendeten deutschsprachigen Bezeichnungen deutlich von der entsprechenden Terminologie der theosophischen Tradition, die Steiner bekannt war, unterscheiden.
Die theosophischen Autoren vor Steiner sprachen von sieben ‚Prinzipien‘ oder ‚Ursachen‘ (principles), die das Wesen des Menschen ausmachen sollten; Steiner hingegen redet von ‚Gliedern‘ und von ‚Hüllen‘ des menschlichen Wesens. ‚Prinzipien‘ aber sind unveränderbare Elemente oder Gesetzmäßigkeiten, ein Letztes, auf das man zurückgehen und das auf nichts anderes mehr zurückgeführt werden kann. ‚Glieder‘ hingegen sind Aspekte eines Ganzen, wobei die Identifikation eines Gliedes und seine Trennung vom Ganzen immer eine künstliche, vom Betrachter geschaffene und nur für diesen bestehende ist. Ähnlich ist es mit dem Begriff der ‚Hülle‘, der ebenfalls impliziert, dass der jeweils betrachtete Aspekt des menschlichen Wesens nicht an und für sich besteht, sondern nur eine Modalität, eine Art und Weise darstellt, in der dieses Wesen bestimmte Aspekte seiner selbst verhüllt – und sich in dieser Verhüllung zugleich offenbart.29
Aber auch inhaltlich zeigen sich charakteristische Unterschiede. Clement fährt fort:
Schon rein begrifflich sind also eine ‚Prinzipienlehre‘ und eine Theorie von ‚Wesensgliedern‘ bzw. -hüllen zwei ganz verschiedene Dinge. Dem entspricht der weitere Befund, dass die theosophischen Hüllenmodelle als relativ steife Theoriekonstruktion dastehen, während sich Steiners Denkmodelle als elastisch und veränderbar erweisen. So lässt die Theosophie drei- vier-, sieben- und neungliedrige Modelle nebeneinander gelten als unterschiedliche Weisen, das menschliche Wesen vorzustellen. Was schließlich das steinersche Wesensgliedermodell vollends von der traditionellen theosophischen Prinzipienlehre unterscheidet, ist die Tatsache, dass Steiner immer wieder darauf hindeutet, dass seine Darstellungen in einem transzendentalen (d. h. durch die Struktur des menschlichen Erkennens bedingten) Sinne aufzufassen sind, dass also sämtliche Aufgliederungen der als einheitlich verstandenen Wirklichkeit in verschiedene Seinsebenen, -hüllen und -glieder allesamt als durch und für das erkennende Bewusstsein bestehend aufzufassen sind.30
In den drei ersten Auflagen der Theosophie, also bis zur Fassung von 1910, hält Steiner sich noch deutlich an die in der Zeitschrift Luzifer zitierte und im theosophischen Milieu weit verbreitete Nomenklatur. Fast gleichlautend werden die drei Glieder der menschlichen Seele als „Astralkörper“ oder „kama rupa“, als „niederes Manas“ oder „kama Manas“ und als „höheres Manas“ bezeichnet (TH, 42). Von einer Auflage zur nächsten bemüht Steiner sich dann, seine Beobachtungen genauer zu fassen, seine Unterscheidung der einzelnen Wesensglieder zu präzisieren und mit seiner eigenen Auffassung in Einklang zu bringen. Zugleich ersetzt er die indische Terminologie durch die oben genannten deutschen Sprachschöpfungen. In all diesen Veränderungen bleibt jedoch ein prägnanter Satz durch alle Fassungen hindurch bestehen: „Will man den ganzen Menschen erfassen, so muss man ihn aus den genannten Bestandteilen zusammengesetzt denken.“ (TH, 41) Diese Formulierung, welche die Konzeption der Wesensglieder wie ein starres Schema, eine Art Baukasten-Modell erscheinen lässt, wird unmittelbar anschließend nach der Art Goethes mit einer gleichsam gegenläufigen Gedankenbewegung in eine Folge von Metamorphosen umgebildet. In dieser dynamischen Perspektive stehen die Wesensglieder nun nicht mehr wie distinkte Teile des menschlichen Wesens nebeneinander, sondern verwandeln sich durch eine bestimmte Tätigkeit in das jeweils Nächsthöhere. Der physische Leib wird durch eine Metamorphose zum Äther- oder Lebensleib, die Empfindungsseele wandelt sich zur Verstandesseele, diese zur Bewusstseinsseele. Bezeichnend ist auch, dass Steiner sowohl das sieben- wie das neungliedrige Wesensgliedermodell der theosophischen Tradition in seine Darstellung integriert und demonstriert, wie mittels einer flexiblen lebendigen Betrachtung beide gut nebeneinander bestehen können. 1910 fügt er sogar noch ein drittes Modell hinzu, welches nun die klassisch anthroposophische Gliederung des Menschen in vier Wesensglieder festschreibt, ohne dass die beiden anderen Modelle als falsch oder überholt dargestellt werden. Das als ‚Ich‘ bezeichnete Wesensglied hingegen wird jetzt zum Akteur, welcher hinter all diesen Verwandlungen und Transformationen steht. Es ist „vermöge seines Anteiles an der geistigen Welt Herr“ (TH, 44) im Haus der übrigen Wesensglieder.
Eine weitere Präzisierung des Begriffs der Bewusstseinsseele, die sich im Zusammenspiel aller dieser Vorstellungen herausbildet, ergibt sich aus der kurzen Charakterisierung vom Dezember 1903, das dritte Seelenglied sei „vom Geistselbst durchsetzt“,31 mit anderen Worten: das erste der drei Geistglieder, das dem manas der Theosophen entspricht, verbinde sich mit der Bewusstseinsseele. Diesem Gedanken liegt die Vorstellung zugrunde, dass schon die Verstandesseele die Sphäre der ewigen Wahrheit berühre, etwa beim Erfassen mathematischer Gesetze, und insofern schon dabei sei, zur Bewusstseinsseele zu werden, dass aber die in allen Mysterienschulen der Vergangenheit gepflegte Praxis der Selbsterziehung als ein Weg des ‚Suchens nach Gott‘, zum ‚Begreifen des Lebensgrundes‘, ein höheres Prinzip eingreifen lasse, welches der Bemühung von unten gleichsam ‚von oben‘ entgegenkommt.32 Explizit hat Steiner diesen Gedanken erst drei Jahre später in seinen Münchener Vorträgen vom Herbst 1906 vorgebracht. Dort charakterisiert er die Entwicklung der Wesensglieder im Zusammenhang mit seiner Evolutionslehre und beschreibt, wie die Reihe der von ihm später in der Geheimwissenschaft im Umriss dargestellten ‚nachatlantischen‘ Kulturepochen die Aufgabe hatte, „das Manasprinzip zum Ausdruck zu bringen“,33 also die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Ich-Entwicklung vom Stadium der Bewusstseinsseele aus das Stadium des ‚Geistselbst‘ erreichen kann. Die Bewusstseinsseele zeigt sich hier einerseits als Errungenschaft eines gegenüber der Verstandesseele erweiterten Bewusstseins durch autonome Tätigkeit des Ich, durch Selbsterziehung, andererseits als ein Geschenk höherer Mächte, die in der Folge der Kulturepochen tätig waren. Später werden diese Schilderungen weiter vertieft.34
Konzepte der Selbsterkenntnis
Steiners Bemühungen um die Grundlegung einer neuen, mit den Methoden seiner anthroposophischen Geistesforschung realisierten „Philosophie über den Menschen“35 sind von vielen seiner Schüler und auch von der akademischen Kritik als Entwürfe für eine innovative Weltanschauungslehre aufgefasst worden. Sie lassen sich aber auch biografisch als Spuren einer ungewöhnlichen Reihe von Versuchen der Selbstvergewisserung betrachten, die in der Entdeckung des Begriffs der Bewusstseinsseele im Jahre 1903 zu einer gewissen Kulmination gelangt. Wie diese Entdeckung zustande kam, lässt sich nicht klären, ohne die Erweiterungen und Differenzierungen des Ich-Begriffs in der Psychologie Steiners zu berücksichtigen. Steiners Nachsinnen darüber ist von zwei tiefgreifenden existentiellen Erfahrungen in Gang gesetzt und in Gang gehalten worden. In einem Brief an seinen Jugendfreund Josef Köck berichtet er von einem außergewöhnlichen Erweckungserlebnis bei der Lektüre eines Schelling-Textes.36 Diese Erfahrung – man mag sie im Sinne von Kaj Skagen eine mystische nennen – steht im Hintergrund der vielen Erlebnisse, die der rastlose ‚Wanderer‘ durch gegensätzliche soziale Milieus37 im Lauf der anschließenden Jahre zu verarbeiten hat. Sie führt ihn in eine anhaltende Auseinandersetzung mit der Philosophie und Weltanschauungslehre Johann Gottlieb Fichtes,38 in Weimar dann zu seiner anfänglichen Begeisterung für Friedrich Nietzsche und in Berlin zur Entdeckung der radikalen Ich-Philosophie Max Stirners.39
Ein Zeugnis hierfür ist die Abhandlung über den Egoismus in der Philosophie, die Steiner in einem Sammelband zur Jahrhundertwende im Jahre 1899 publiziert hat, ein Resümee des philosophischen Denkens seit dem griechischen Altertum, das in eine Apotheose des allein auf sich selbst gegründeten Ich und seiner Bedeutung für das Weltgeschehen einmündet:
Das Ich denkend begreifen, heißt die Grundlage schaffen, um alles, was aus dem Ich kommt, allein auch auf das Ich zu begründen. Das Ich, das sich selbst versteht, kann sich von nichts als von sich selbst abhängig machen. Und es kann niemandem verantwortlich sein als sich. Es erscheint nach diesen Ausführungen fast überflüssig, zu sagen, dass mit dem Ich nur das leibhaftige, reale Ich des Einzelnen und nicht ein allgemeines, von diesem abgezogenes gemeint sein kann. Denn ein solches kann ja nur aus dem realen durch Abstraktion gewonnen sein. Es ist somit abhängig von dem wirklich Einzelnen.40
Ist dieser Text Ausdruck einer auf die Spitze getriebenen, äußersten Isolation, wie Steiners problematische Lebensumstände Ende der neunziger Jahre41 sie herbeigeführt haben könnten? Oder handelt es sich um einen weiteren Schritt der Selbstvergewisserung, aus dem ein zweites Erweckungserlebnis hervorging, eine Erfahrung, über die Steiner sich nur sehr zurückhaltend äußert, die er aber im späteren autobiografischen Rückblick als entscheidend für seine „Seelen-Entwickelung“ kennzeichnet?42 Diese tritt in seinen im engeren Sinne anthroposophischen Schriften und in zahlreichen Vorträgen von der Jahrhundertwende an immer deutlicher hervor und rückt ins Zentrum seiner Anthroposophie. Sie hat sein Selbstverständnis drastisch verändert und damit die Idee der Bewusstseinsseele gleichsam herausgefordert. Was sich darüber inzwischen sagen lässt, haben Christoph Lindenberg, Günter Röschert, David Marc Hoffmann und andere im Einzelnen dargestellt.43
Zwei Jahre später beschreibt Steiner, dem ersten Anschein nach unabhängig von seiner eigenen Situation, ein Prüfungserlebnis, das auf dem Weg zur spirituellen Einweihung auftrete:
Eine Möglichkeit liegt hier, die furchtbar sein kann. Es ist die, dass der Mensch seine Empfindungen und Gefühle für die unmittelbare Wirklichkeit verliert, und sich keine neue vor ihm auftut. Er schwebt dann wie im Leeren. Er kommt sich wie abgestorben vor. Die alten Werte sind dahin, und keine neuen sind ihm erstanden. Die Welt und der Mensch sind dann für ihn nicht mehr vorhanden. – Das ist aber gar nicht eine bloße Möglichkeit. Es ist für jeden, der zu höherer Erkenntnis kommen will, einmal Wirklichkeit. Er langt da an, wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erklärt. Er ist dann nicht mehr in der Welt. Er ist unter der Welt – in der Unterwelt. Er vollzieht die – Hadesfahrt. Wohl ihm, wenn er nun nicht versinkt. Wenn sich für ihn eine neue Welt auftut. Er schwindet entweder dahin; oder er steht als Verwandelter neu vor sich. In letzterem Falle steht eine neue Sonne, eine neue Erde vor ihm. Aus dem geistigen Feuer ist ihm die ganze Welt wiedergeboren. (CM, 13)
David Marc Hoffmann kommt zu dem Schluss, dass diese Sätze eine Krise widerspiegeln, die der Autor selbst durchlebt haben muss. Wenn das zutrifft, wäre Steiners ungewöhnlicher Weg der Selbstvergewisserung hier zu einem gewissen Höhepunkt gelangt. Das Selbstbewusstsein, mit welchem er trotz eines anfänglichen Zögerns sein neues Amt bei den Theosophen als bedeutende Mission auffasst, hätte darin einen verständlichen Grund.
Im Rahmen der vorliegenden Betrachtung kann auf die biografischen Einzelheiten und die weiträumigen Implikationen der Krise um die Jahrhundertwende nicht eingegangen werden. Jedenfalls verbindet Steiner sein radikales Zutrauen zur spirituellen Produktivität jedes einzelnen Ich noch im Mai 1902 mit einer Vision vom Fortschritt der Weltentwicklung durch verantwortliche Mitwirkung des Menschen. Vor dem Berliner Monistenbund vertritt er enthusiastisch den Gedanken, dass die Entwicklungslehre Darwins und Haeckels, für die er sich eingesetzt hat, einer grundlegenden Erweiterung bedürfe.
Die Wahrheit, die befruchten will, wird immer ein Suchen sein, wird immer das Bild der Tatsachenfanatiker ‚fälschen‘ müssen; aber sie steht unendlich über dieser, indem sie etwas Intuitives, Geistiges im Menschen ausbildet, etwas Neues der Natur hinzufügt, was nicht wäre ohne den Menschengeist. Dadurch erhält das, was der Mensch in seinen Träumen hegt, in seinem Geiste schafft, mehr als die Bedeutung eines bloßen Luxus, erhält kosmische Wahrheit im Leben, als etwas, das der Mensch neu erzeugt hat. So steigt er auf dem Unterbau der Wissenschaft empor zu produktiver Arbeit, die frei aus seiner Seele emporquillt als Originalintuition. Anschließend an die höchste Stufe der Entwickelung hat er eine Aufgabe, die kein anderes Wesen der Welt hat, fügt er etwas hinzu, was ohne ihn ewig nicht vorhanden wäre. 44
Im Dezember 1903 erscheint, wie wir gesehen haben, zum ersten Mal im Werk Steiners das Wort ‚Bewusstseinsseele‘. Es liegt nahe, anzunehmen, dass der damit bezeichnete Begriff schon bei jenem Vortrag, der wenig mehr als ein Jahr vorher gehalten wurde, im Hintergrund präsent war.
In der Theosophie führt Steiner aus, dass die unteren Wesensglieder bis hinauf zur Verstandesseele von bestimmten geistigen Wesenheiten ausgebildet und gestaltet werden, also ohne das Zutun des Menschen gleichsam naturhaft entstehen. In der Verstandesseele werde dann der Mensch „selbst zum (bewussten) Arbeiter an sich“ (TH, 140). Diese Tätigkeit leitet über zum Entstehen der Bewusstseinsseele. Und mit dem Erwachen der Bewusstseinsseele zu Beginn der Neuzeit beruht dann der weitere Fortgang der Evolution auf der freien Mitwirkung individueller Menschen. Dieser Gedanke macht die Begeisterung verständlich, mit der Steiner ein künftiges Wirken aus „Originalintuition“ vor seine Monistenfreunde hinstellt.
Einige kryptische Sätze aus einem noch nicht veröffentlichten Notizbuch aus dem Jahre 1903 deuten darauf hin, wie Steiner sich nach der Übernahme seines Amtes bei der Theosophischen Gesellschaft bemüht hat, die aus den vorangegangenen Auseinandersetzungen mitgebrachten Ideen zur Evolution der Menschheit in der Sprache der Theosophen, in die er sich nach der Amtsübernahme von 1902 hineinzufinden hatte, zum Ausdruck zu bringen. Was er in der Theosophie als ‚Geistselbst‘ bezeichnet, theosophisch das kama manas, erscheint hier überraschend als übergeordneter Faktor der gesamten natürlichen Evolution, von der festen Materie über Pflanze, Tier und Mensch und dann dessen Seele und Geist bis hin zum höchsten Ideal:
Kama manas gestaltet sich das Mineralreich […] das Pflanzenreich […] das Tierreich […] das Reich des Menschen […] das Astralen-Seelenurbild […] das Rupische-Geisturbild […] das Arupische – freier Geist.45
Dieses flüchtig hingeworfene Schema wirkt wie ein erster Einfall, in welchem sich bereits im Jahre 1903 die kosmologische Evolutions-Idee der Geheimwissenschaft im Umriss ankündigt. Wie eine konzentrierte Zusammenfassung dieses Sachverhalts liest man im gleichen Notizbuch: „Kama ist vollendet. Manas bildet sich Kama als Organ.“46 Nimmt man an, dass mit kama an dieser Stelle die in der Skizze von 1903 (siehe oben) genannten theosophischen Wesensglieder bzw. Prinzipien kama rupa und kama manas zusammen gemeint sind, also die beiden höchsten der von Natur aus dem Menschen gegebenen Organe, und mit manas das ‚Geistselbst‘ der Theosophie, das gleichsam von oben eingreift und dem sich entwickelnden Ich aufwärts hilft, so hat man in epigrammatischer Verkürzung vor sich, wie nach dem Kenntnisstand Steiners zu Beginn seiner Lehrtätigkeit bei den Theosophen in der Region der Bewusstseinsseele Natur und Geist zusammenwirken.
Wie Steiner im Licht solcher Gedankengänge seine eigene Mission sah, zeigt eine weitere Notiz aus dem gleichen Jahr: „Dein Werk sei der Schatten, den dein Ich wirft, wenn es beschienen wird durch die Flammen deines höheren Selbst.“47 Zu einer solchen Formulierung wäre Steiner kaum gelangt, wenn er nicht an die von jeder Anpassung an die Traditionen der Theosophischen Gesellschaft unabhängige Originalität seiner Idee geglaubt hätte.
Ein Jahr davor hatte Steiner in einem Brief an seinen theosophischen Mitarbeiter Wilhelm Hübbe-Schleiden betont, dass es nicht primär seine Absicht war, traditionelles theosophisches Lehrgut aufzugreifen und weiterzureichen, sondern individuelle Entwicklungen anzuregen:
Ich will auf die Kraft bauen, die es mir ermöglicht, ‚Geistesschüler‘ auf die Bahn der Entwicklung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen.48
Diese Intention tritt zunächst vorübergehend in den Hintergrund seiner Tätigkeit, wird aber schon im Sommer 1906 neu bemerkbar in der betonten Revision seines Verhältnisses zu seinen esoterischen Schülern. In mehreren Vorträgen49 und auch in einem Aufsatz in Lucifer-Gnosis50 verabschiedet er sich von seiner Rolle als ‚Guru‘ und gibt bekannt, dass in der von ihm vertretenen ‚rosenkreuzerischen‘ Richtung des mystischen Strebens der geistige Lehrer nur noch als Anreger und Berater tätig sei, nicht als maßgebende Autorität.51 Er verlagert damit, gemäß dem Impuls von 1899, die Verantwortung für den Fortschritt auf dem esoterischen Schulungsweg auf die Individualität jedes einzelnen Schülers.
Drei Jahre später, im Sommer 1909, lässt Steiner eine Vortragsreihe über Geisteswissenschaftliche Menschenkunde für seinen inzwischen gewachsenen Hörerkreis bei den Theosophen in Berlin, dem damals zentralen Ort seines Wirkens, in einen bemerkenswerten Gedankengang einmünden. Einleitend betrachtet er an Beispielen aus der Pflanzen- und Tierwelt das Wechselspiel von Evolution und Involution, das Sich-Entfalten und das Vergehen lebendiger Organismen in dauernder Wiederholung. Hiervon unterscheide sich der Mensch. Und drastisch ermahnt Steiner seine Zuhörer, sich übend zu vergegenwärtigen, was er jetzt vorbringt:
Ich bitte jetzt ganz genau zu folgen, wir kommen zu einem allerwichtigsten und auch allerschwierigsten Begriff. Und nicht umsonst sage ich das in einer der letzten Stunden, denn Sie haben den ganzen Sommer Zeit, um darüber nachzudenken. Man soll über solche Begriffe Monate und Jahre nachdenken, dann kommt man nach und nach auf die ganze Tiefe, die darin liegt.52
Die weitläufigen kosmologischen und theologischen Implikationen, in die das Folgende eingebettet ist, können hier beiseite bleiben. Als Kerngedanke tritt hervor, dass der Mensch, im Gegensatz zu den Tieren, in der Lage sei, nicht nur Tatsachen wahrzunehmen, sondern Beziehungen zwischen Tatsachen zu bilden. Damit produziere er „Schöpfungen aus dem Nichts“.
Solche Schöpfungen aus dem Nichts entstehen fortwährend in der menschlichen Seele. Es sind die Erlebnisse der Seele, die man nicht durch Tatsachen erlebt, sondern durch Relationen, durch Beziehungen zwischen den Tatsachen, die man sich selber herausbildet. Ich bitte, wohl zu unterscheiden zwischen Erlebnissen, die man aus den Tatsachen, und denjenigen, die man aus den Beziehungen zwischen den Tatsachen hat.53
Steiner beschreibt in dem zitierten Vortrag das Bilden solcher Beziehungen auf den Ebenen des Denkens, des Fühlens und des Wollens (lange bevor er in Von Seelenrätseln seinen Begriff der Dreigliederung der seelischen Funktionen grundlegend darstellt).54 Er berührt damit ein Thema mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für eine humanistische Kulturanthropologie. Ernst Cassirer hat im Rahmen seiner Philosophie der symbolischen Formen das Bilden von Beziehungen im Anschluss an Brentano und Husserl als „echtes ‚Apriori‘, als wesensmäßig Erstes“ bezeichnet.55 (Er bezieht sich dabei auf Paul Natorp, der den gleichen Gedanken vertreten habe.56) Es ist bemerkenswert, dass Steiner schon Jahre vor den beiden bekannten Denkern auf dieses Urphänomen des menschlichen Bewusstseins aufmerksam macht. Es leuchtet ein, dass die Idee der von allen naturgegebenen Voraussetzungen unabhängigen „Schöpfung aus dem Nichts“ den Begriff der Bewusstseinsseele in bemerkenswerter Weise weiter konkretisiert.
Einem weiteren Merkmal des Begriffs der Bewusstseinsseele kommt man auf die Spur, wenn man die gleichfalls aus dem Jahr 1909 stammenden Vorträge über Metamorphosen des Seelenlebens hinzuzieht. Während Steiner seine Geheimwissenschaft im Umriss zum Abschluss bringt, erweitert er in diesen öffentlichen Vorträgen seine fünf Jahre vorher in der Theosophie entworfene Psychologie, indem er herausarbeitet, wovon die Entwicklung der drei Seelenglieder in Gang gesetzt wird. Die Empfindungsseele, so Steiner jetzt, entfalte sich durch Erlebnisse des Zornes, die Verstandesseele durch das Streben nach Wahrheit, die Bewusstseinsseele durch Andacht.57 Im Zorn reagiert das Ich auf äußere Ereignisse, im Bemühen um Wahrheit ordnet und klärt es solche Ereignisse und gewinnt dadurch an Selbstbewusstsein, durch Andacht fühlt es sich in die rätselhafte Außenwelt beobachtend und empfindend ein. Steiner beleuchtet mit dieser Unterscheidung, was er zugleich im Rahmen der Kulturstufenlehre seiner Geheimwissenschaft über die gesamtmenschheitliche Entwicklung der Seelenglieder darstellt. Danach entfaltete sich die Empfindungsseele im Milieu der nahöstlichen Flusstalkulturen des dritten und zweiten vorchristlichen Jahrtausends mit ihren eindrucksvollen religiösen Ritualen, die Verstandes- und Gemütsseele von der griechischen Antike bis ins hohe Mittelalter durch das Erwachen des logischen Denkens und die Vertiefung des Empfindungslebens durch die christliche Glaubenslehre, die Bewusstseinsseele durch die Wandlungen des Weltbildes vom 15. Jahrhundert ab, seit Beginn der Neuzeit.58 Im Zuge seiner Auseinandersetzungen mit dem Denkstil der modernen Naturwissenschaften kommt Steiner von da an in zahlreichen Vorträgen auf die damit verbundenen Bewusstseinsveränderungen zurück.
Der Gedanke, das Streben nach Wahrheit, wie es im Zeitalter der Verstandesseele die Menschheit zumindest in Europa bewegte, dem Bemühen um Andacht im Zeitalter der Bewusstseinsseele gegenüber zu stellen, beleuchtet einen mentalitätsgeschichtlichen Tatbestand von bemerkenswerter Aktualität. Wie es Johan Huizinga in seiner bekannten Studie über den Herbst des Mittelalters beschrieben hat, kam bis zum Beginn der Neuzeit die in der griechischen Antike erwachte Fähigkeit des logischen Denkens zu eindrucksvoller Vollendung, in der Präzisierung der Begriffe ebenso wie in den beziehungsreichen Symbolbildungen, mit denen die gottgewollte Ordnung der Schöpfung, die in der christlichen Glaubenslehre verherrlicht wurde, bis ins Detail fixiert war. Huizinga bringt den Vorgang in ein sprechendes Bild:
Alles, was gedacht werden konnte, hatte eine plastische oder bildliche Form gewonnen. Das Denken selbst konnte nun zur Ruhe gehen: die Vorstellung von der Welt war so unbeweglich, so starr geworden wie eine Kathedrale, die im Mondenlicht schläft.59
Auch das Zeitalter der Bewusstseinsseele, unsere Gegenwart, wie Steiner sie sieht, kennt solche Systembildungen. In der Bestimmung seiner wissenschaftstheoretischen Position in Von Seelenrätseln jedoch identifiziert sich Steiner deutlich mit der heute allgemein anerkannten Auffassung, dass seriöses wissenschaftliches Forschen sich in einem fließenden, niemals endgültig abschließbaren Prozess vollzieht, der überall da Fortschritte macht, wo Phänomene vorurteilslos neu wahrgenommen werden,60 d. h.: durch Andacht. Für Steiner zeigt sich das besonders deutlich in der Phänomenologie der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Aber auch in der anthroposophischen Soziallehre wird im Lauf der Zeit Andacht ein zentrales Motiv. In der Erstfassung seiner Philosophie der Freiheit schreibt Steiner in lockerem Ton: „Leben und leben lassen ist die Grundmaxime der freien Menschen.“ In der Neuauflage von 1918 präzisiert er: „Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen“ (PF, 171). Wenig später wird daraus ein Mantra, das ‚Motto der Sozialethik‘:
Heilsam ist nur, wenn
Im Spiegel der Menschenseele
Sich bildet die ganze Gemeinschaft
Und in der Gemeinschaft
Lebet der Einzelseele Kraft.61
Die Bedeutung dieser Metamorphose für die anthroposophisch orientierte Lebenswelt ist nicht zu unterschätzen.
Nach der einführenden Darstellung der Wesensglieder in der Theosophie folgt dann im April 1911, unmittelbar nach dem Erscheinen der Geheimwissenschaft im Umriss, die das im Jahre 1904 entworfene Bild vom Menschen zu einer großen Kosmologie erweitert, der von der akademischen Steiner-Forschung bisher so gut wie gar nicht beachtete Vortrag auf dem internationalen Philosophen-Kongress in Bologna, der die Idee vom Leib als ‚Spiegel‘ einführt und das Erleben des Ich in den Umkreis außerhalb des Leibes verlegt, ein Gedanke, der für Steiners Hermeneutik der Natur, für seine Sinneslehre und seine Sozialpsychologie und damit auch für seine Pädagogik von grundlegender Bedeutung ist.62 Ein gutes Jahr später, in der Schrift Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, fokussiert Steiner die Aufmerksamkeit seiner Schüler auf das Erleben persönlicher Erfahrungen an Hand einer Reihe von exemplarischen Meditationen.
Die Darstellung ist so gehalten, dass der Leser in das Dargestellte hineinwachsen mag, so dass es ihm im Verlaufe des Lesens wie zu einer Art Selbstgespräch wird. Gestaltet sich dieses Selbstgespräch so, dass dabei vorher verborgene Kräfte sich offenbaren, welche in jeder Seele erweckt werden können, so führt dann das Lesen zu einer wirklichen inneren Seelenarbeit. Und diese kann sich allmählich zur Seelenwanderschaft gedrängt sehen, welche wahrhaftig in das Schauen der geistigen Welt hineinversetzt. (WS, III)63
Der Übergang vom Selbstgespräch zur Seelenarbeit und dann zur Seelenwanderschaft kennzeichnet einen Weg von einem ersten Stadium unverbindlichen Nachsinnens über ein zweites Stadium systematischen Übens im Sinne der Anthroposophie zu einem Lebenskonzept eigenverantwortlicher Erkundungen in der verwirrenden Realität modernen Lebens. Es ist deutlich, dass Steiner hier seine Schüler dazu anregt, die Grenzen des stillen Bezirks der intimen Pflege esoterischer Interessen, der sich in den ersten Aufbaujahren der Theosophischen Gesellschaft und ihrer Esoterischen Schule gebildet hatte, durch individuelle Aktivität zu überschreiten. Als gründlicher Kenner der Weimarer Sophien-Ausgabe mag er dabei im Sinn gehabt haben, was Goethe in seinem fragmentarischen Libretto zu einer Fortsetzung von Mozarts Zauberflöte als ernstes Mahnwort an die Priesterschaft des freimaurerischen Sarastro-Tempels formuliert hat:
In diesen stillen Mauern lernt der Mensch sich selbst und sein Innerstes erforschen. Er bereitet sich vor, die Stimme der Götter zu vernehmen; aber die erhabene Sprache der Natur, die Töne der bedürftigen Menschheit lernt nur der Wandrer kennen, der auf den weiten Gefilden der Erde umherschweift.64
Im Jahre 1913 folgt in einer unscheinbaren weiteren Publikation mit dem Titel Die Schwelle der geistigen Welt eine Reihe von „aphoristischen Ausführungen“, die im Anschluss hieran einzelne Erlebnisse auf dem anthroposophischen Übungsweg vertiefend beleuchten. Im Rahmen einer Betrachtung über Schicksalsfragen taucht dort der Begriff eines „anderen Selbst“ auf, das sich als „Inspirator“ des sonst erlebten Selbst ausnimmt, einer „geistigen Wesenheit, die man in einem höheren Sinne selber ist, und die doch außerhalb dessen steht, was man in der Sinnenwelt notwendig als sein Selbst erfühlen muss“ (SW, 34).65
Dieses ‚andere Selbst‘ ist es, welches die Seele hinführt zu den Einzelheiten ihres Lebensschicksals, und welches in ihr die Fähigkeiten, Neigungen, Anlagen usw. hervorruft. – Dieses ‚andere Selbst‘ lebt in der Gesamtheit des Schicksals eines Menschenlebens. Es geht neben dem Selbst, das zwischen Geburt und Tod seine Bedingungen hat, einher und gestaltet das menschliche Leben mit allem, was Erfreuliches, Erhebendes, Schmerzvolles in dasselbe einschlägt. Das übersinnliche Bewusstsein lernt, indem es mit diesem ‚anderen Selbst‘ sich zusammenfindet, zu der Gesamtheit des Lebensschicksals so ‚Ich‘ zu sagen, wie der physische Mensch zu seinem Eigenwesen ‚Ich‘ sagt. (Ebd.)
Als höchste Errungenschaft individueller Aktivität auf dem anthroposophischen Übungsweg erscheint im weiteren Verlauf der Betrachtung (SW, 91–98)66 schließlich der Begriff des ‚wahren Ich‘, einer mystischen Erfahrung, deren Eigenart eine vertiefende Untersuchung erfordern würde, die hier nicht geleistet werden kann. Als ein besonderes Forschungsproblem erhebt sich hierbei die Frage, wie der hier beschriebene differenzierte Ich-Begriff Steiners mit dessen Theorie von der Dreigliederung des sozialen Organismus in Verbindung zu bringen ist. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Das Problem sollte aber genannt werden.67
‚Lebendige Begriffe‘
Wie sich in der vorliegenden Untersuchung gezeigt hat, bereiten Steiners Texte an vielen Stellen durch ihre Undeutlichkeit erhebliche Verständnisschwierigkeiten. Diese problematische Eigenart lässt sich bei den mündlichen Vorträgen, die erst ab 1915 überwiegend professionell nachgeschrieben worden sind, auf stilistische Unvollkommenheiten der freien Rede oder andere hinderliche Umstände zurückführen. Im Gegensatz dazu sind Grundsatztexte wie der Bologna-Vortrag von 1911 oder das Buch Von Seelenrätseln, die sich an ein wissenschaftlich geschultes Publikum richteten, Satz für Satz klar durchformuliert, anspruchsvoll zuweilen, aber in jeder Einzelheit nachvollziehbar. Steiner macht aber selbst darauf aufmerksam, dass seine Lehre dort, wo sie von ‚übersinnlichen‘ Erfahrungen ausgeht, Ausdrucksformen für etwas in gewisser Hinsicht Unsagbares zu finden habe, der ‚ungeschriebenen Lehre‘ Platos vergleichbar,68 dass sie ihr Bild vom Menschen „mit ganz andern Mitteln“ (VS, 14) male als andere Wissenschaften das ihrige. Jeder Versuch, die Eigenart der Bewusstseinsseele zu beschreiben, wird zu berücksichtigen haben, was hier nach Steiners Auffassung psychologisch zugrunde liegt. Steiner hat die Frage nach der Eigenart der „ganz andern Mittel“ in Von Seelenrätseln mit einer Art Tiefenpsychologie beantwortet, auf die wir kurz eingehen. Vor allem aber sind für die Klärung dieser Frage gewisse Ergebnisse der Goethe-Forschung wichtig, über die anschließend im Sinne eines Exkurses berichtet werden soll.
In der eben schon zitierten, wissenschaftstheoretisch zentralen Schrift Von Seelenrätseln beschreibt Steiner mit Bezug auf Emil Du Bois-Reymond69 das Phänomen des Auftretens von Grenzen des Erkennens, dem gegenüber man resignieren oder dem man mit fragwürdigen Hypothesenbildungen begegnen könne. Für den anthroposophisch übenden Schüler, wie er ihn sich wünscht, werde diese Grenzerfahrung zum Übungsmotiv, das zunächst wie eine primitive Tastwahrnehmung erlebt werde, dann aber durch übende Vertiefung zu differenzierten Wahrnehmungen übersinnlicher Art führen könne. Im Anschluss hieran greift Steiner auf den Jahre vorher von ihm konzipierten Begriff der ‚Imagination‘ zurück (vgl. SE, 251 ff.) und charakterisiert den Übergang von der Welt lebendig bewegter Bilder, die dabei bewusst werden, zur verfestigten Welt gewöhnlicher, an Sinneserfahrungen gebundenen Vorstellungen als eine Art ‚Lähmungsprozess‘.
So wie die Vorstellungen ihrem ureigenen Wesen nach sind, bilden sie zwar einen Teil des Lebens der Seele; aber sie können nicht in der Seele bewusst werden, solange diese nicht ihre Geistorgane bewusst gebraucht. Sie bleiben, solange sie ihrem Eigenwesen nach lebendig sind, in der Seele unbewusst. Die Seele lebt durch sie, aber sie kann nichts von ihnen wissen. Sie müssen ihr eigenes Leben herabdämpfen, um bewusste Seelenerlebnisse des gewöhnlichen Bewusstseins zu werden. Diese Herabdämpfung geschieht durch jede sinnliche Wahrnehmung. So kommt, wenn die Seele einen Sinneseindruck empfängt, eine Herablähmung des Vorstellungslebens zustande; und die herabgelähmte Vorstellung erlebt die Seele bewusst als den Vermittler einer Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit. (VS, 34 f.)
Das gewöhnliche Vorstellungsleben wird, so gesehen, zu einem im Zuge der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit notwendigen, aber doch zeitlich begrenzten Ausnahme-Phänomen, das im weiteren Verlauf der Evolution überwunden werden soll. Steiners Position gegenüber den Gefährdungen des gegenwärtigen Alltagsbewusstseins, die im Binnenraum der Diskussion unter seinen Schülern breiten Raum einnehmen, findet hierin ihre psychologische Begründung. (VS, 27 ff.) Das „besonnene Erleben“ mit „Grenzvorstellungen“ (29), das Steiner an dieser Stelle begründet, kann als ein Prinzip sämtlicher Übungen der Selbsterziehung aufgefasst werden, die unter Anthroposophen verbreitet sind.
Mit der angeführten Bemerkung aus Von Seelenrätseln, dass die Anthroposophie ihr Bild vom Menschen „mit ganz andern Mitteln“ (VS, 45) male als die empirische Forschung, die allein von Sinnesdaten ausgeht, stellt sich eine weitere Frage.70 Steiners häufige Rede von den ‚lebendigen Begriffen‘ seiner Lehre findet im Begriff der ‚Grenzvorstellung‘, wie er in Von Seelenrätseln eingeführt wird, ihr psychologisches Fundament. Was damit gemeint sein kann, wird aber in vollem Umfang erst deutlich, wenn man Steiners jahrzehntelangen intensiven Umgang mit den besonderen Ausdrucksformen der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes berücksichtigt. Es fällt auf, wie er die Denkweise dieser Schriften nachahmt und einzelne Wortbildungen daraus übernimmt, so etwa aus dem didaktischen Teil der Farbenlehre den Begriff der ‚Formel‘, den Goethe dort umsichtig einführt, um sein Bemühen um die wandelbare, jeder sprachlichen Fixierung widerstrebende Wirklichkeit der Naturphänomene zu beschreiben. Da heißt es bei Goethe:
Man bedenkt niemals genug, dass eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke. Dieses ist besonders der Fall, wenn von Wesen die Rede ist, welche an die Erfahrung nur herantreten und die man mehr Tätigkeiten als Gegenstände nennen kann, dergleichen im Reiche der Naturlehre immerfort in Bewegung sind. Sie lassen sich nicht festhalten, und doch soll man von ihnen reden; man sucht daher alle Arten von Formeln auf, um ihnen wenigstens gleichnisweise beizukommen.71
Steiner sah sich in einer ganz ähnlichen Lage, als er vor der Aufgabe stand, die anthroposophische Vorstellung von den Wesensgliedern des Menschen sprachlich an sein Publikum zu vermitteln. Im Rahmen dieser Konzeption hatte er beispielsweise schon 1904 in seiner Theosophie vom ‚Ätherleib‘ als demjenigen Wesensglied des Menschen gesprochen, welches die Grundlage für die vitalen Lebens- und Bildungsprozesse des Menschen darstelle und das der Mensch insofern mit Pflanzen und Tieren gemeinsam habe. Zwei Jahre später in mehreren Vorträgen und dann auch in dem Aufsatz Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft hatte er die Vorstellung entwickelt, dass dieser Ätherleib beim Kind erst um das siebente Lebensjahr herum geboren werde, d. h. in seine eigentliche Funktion eintrete.72 Im Jahre 1921 bezog Steiner sich in einem öffentlichen Vortrag vor akademischem Publikum auf diese Aussagen und bezeichnete nunmehr die früher geprägte metaphorische Wendung von der „Geburt des Ätherleibes“ in seiner pädagogischen Anthropologie als „formelhaft“. Es sei damals notwendig gewesen, so seine Erläuterung, dass er sich „am Ausgangspunkte anthroposophisch-geisteswissenschaftlicher Betrachtung“, ausgehend von den Wissensformen des „unmittelbaren Tageserlebens“, eines solch „Formelhafte[n]“ bedient habe.73 Doch dürfe man bei solchen Formeln nicht stehen bleiben. Beim Übergang zu fachwissenschaftlicher Betrachtungsweise werde daraus „etwas Ähnliches wie die Formel der Mathematik“, nämlich „wissenschaftliche Methode“.74 An anderer Stelle bezeichnet Steiner auch einen seiner mantrischen Sinnsprüche als ‚Formel‘ in diesem Sinne.75
Immer wieder redet Steiner, besonders in seinen pädagogischen Vorträgen, von den ‚lebendigen Begriffen‘ seiner Anthroposophie. Auch diese Wortbildung kann von Goethe her verstanden werden.76 Dieser hat in einem berühmten Aphorismus die reduktionistische Denkweise der zeitgenössischen Naturwissenschaft, gegen die er besonders auf dem Gebiet der Farbenlehre kämpfte, als „Allegorie“ bezeichnet und sie mit der von ihm angestrebten „Symbolik“ konfrontiert.77
Goethes Verständnis des Symbolischen ist inzwischen von der germanistischen und stellenweise auch von der naturwissenschaftlichen Forschung eingehend diskutiert worden und hat zu weiterführenden Untersuchungen angeregt.78 Der Freiburger Sprachforscher Uwe Pörksen hat detailliert die Kunstgriffe beschrieben, die Goethe für seine besondere Denk- und Ausdrucksweise verwendet hat: das Arbeiten mit komparativen semantischen Reihen, mit Polaritäten, Metamorphosen, Paradoxien, mit gewissen Schemata, die Pörksen treffend als „dynamische semantische Felder“ bezeichnet.79 Steiner hat die behutsame, bewegliche und auffallend oft multiperspektivische Vorgehensweise Goethes schon früh eingehend studiert, hat sie beschrieben und später in seinen anthroposophischen Schriften und Vorträgen selbst verwendet. Aus den dargestellten Zusammenhängen erklärt sich seine häufige Rede von der Notwendigkeit ‚lebendiger Begriffe‘, zugleich aber auch seine auffallende Scheu vor definitorischen Festlegungen, sein zuweilen schwankender und eigenwilliger Wortgebrauch, sein gegen jede stringente Systematisierung widerspenstiger, häufiger Perspektivenwechsel und der fragmentarische, skizzenhafte Charakter vieler seiner Ausführungen. Wer sich um eine Klärung des Begriffs der Bewusstseinsseele bemüht, hat auf diese Eigenheiten des sprachlichen Ausdrucks im Werk Steiners Rücksicht zu nehmen. Eine eindeutige und dauerhaft gültige Definition des Begriffs der Bewusstseinsseele ist nicht zu erwarten. Daraus folgt aber keineswegs, dass Steiners Wortschöpfung nichts anderes sei als ein neues Etikett für die aus der theosophischen Tradition übernommene Vorstellung von einem Seelenteil (principle) zwischen kama rupa und ‚höherem manas‘. Christoph Gögelein und Christian Rittelmeyer haben in ihren Beiträgen zu dem bekannten Stuttgarter Sammelband Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik von 1990 dazu angeregt, das heuristische Potential der so schwer zu definierenden Begriffe Steiners zu entdecken.80 Es gehe bei dessen Beschreibungen nicht um das Abbilden von Tatsachen, sondern um das Erschließen von Zugängen. Ähnlich sprechen Jost Schieren in seinen Ausführungen zu Goethes „anschauender Urteilskraft“ von „blicklenkenden“, Ernst Wolfgang Orth in einem Aufsatz über Ernst Cassirer von „operativen“ Begriffen.81
Ausdruckserfahrungen und ihre Verarbeitung zum Begriff
Steiners Suchen nach angemessenen Formen des Ausdrucks für die ‚übersinnlichen‘ Erfahrungen, von denen er sich bei der Ausarbeitung seiner Lehre immer wieder von neuem bewegt sieht, zeigt sich in bemerkenswerter Weise in seinen Beschreibungen der menschlichen Aura, die schon in der Theosophie von 1904 breiten Raum einnehmen. Es kann hier offenbleiben, ob und wie diese Beschreibungen mit Darstellungen aus den Kulturen Indiens und des Fernen Ostens oder aus der Kunst des christlichen Mittelalters verwandt sind oder sich womöglich aus deren Traditionen herleiten lassen. Wir beschränken uns hier darauf, Steiners Schilderungen wiederzugeben, insofern sie sein Verständnis der Bewusstseinsseele betreffen.
In der Theosophie umkreist Steiner seinen Gegenstand andeutend in metaphorischen Wendungen. Die Bewusstseinsseele sei „was in der Seele als Ewiges aufleuchtet“, „der Kern des menschlichen Bewusstseins, also die Seele in der Seele“ (TH, 31), ein „Licht“, wie von einer „Flamme“ (32). Aussagen über den ‚Geist‘ bleiben in den einleitenden Partien des Buches eigenartig abstrakt. Der Geist sei Träger des Guten, Wahren und Schönen. Erst die anschließenden Teile des Buches geben Einblick in die Fülle der Erscheinungen, die sich für Steiner mit dem Begriff des Geistes verbinden. Die Bewusstseinsseele wächst für ihn einerseits als nächsthöheres Wesensglied aus der Verstandesseele hervor, andererseits ist sie – so in der ersten Auflage – „Träger der Wahrheit“, und dann genauer: sie „berühre“ die Wahrheit, die im übergeordneten Wesensglied des ‚Geistselbst‘ erscheine. (36) Besonders deutlich erscheint sie als derjenige Ort der Seele, von dem aus das Ich ins Weltgeschehen eingreift. „Die Seele, oder das in ihr aufleuchtende Ich, öffnet nach zwei Seiten hin seine Tore“, nach Körper und Geist (38). Seine höchste Äußerung habe dies Ich in der Bewusstseinsseele. „[V]on da aus strahlend“ (36) erfülle es die ganze Seele.
Wie Steiner zu dieser Formulierung gelangt ist, zeigt sich in seinem Vortrag vom 29. Dezember 1903 über den dreigliedrigen Charakter der menschlichen Aura. Er unterscheidet da den „Astralkörper“ als Sitz der Triebe, Begierden und Leidenschaften, die „mentale Aura“, in welcher sich für den Seher der Intellekt, die Verstandeskraft, eine „niedere Geisteskraft“ äußern, und die „bleibende Wesenheit des Menschen“, die Aura des „Kausalkörpers“, der während aller Inkarnationen bestehen bleibe, während der „Astralkörper“ sich nach dem Tode im Kamaloka auflöse und die „mentale Aura“ im unteren Devachan.82 Begleitende Bemerkungen über die Entwicklung der beiden niederen Auren begründen dabei die Unterscheidung von Gattung, Persönlichkeit und Individualität und damit die bemerkenswerte Vorstellung, dass die in der „Persönlichkeit“ tätige Verstandesseele ebenso wie der jedem Menschen von Natur aus gegebene Seelenleib in jedem Leben neu zwischen Geburt und Tod erscheinen und dann vergehen, während der Ich-Wesenskern durch eine Folge von Geburten und Toden hindurch fortbesteht.83
Etwa zur gleichen Zeit, während er an der Theosophie arbeitete oder womöglich kurz vorher, hat Steiner das Gefüge der Wesensglieder noch ausführlicher auch in einer Aufsatzreihe in Lucifer-Gnosis dargestellt. Auch hier taucht der Begriff der Bewusstseinsseele im Zusammenhang einer Schilderung der menschlichen Aura auf, die der übersinnlich Schauende als ein bewegliches Gefüge von Farberscheinungen wahrnehmen könne.84 Steiner schildert dort an einer Reihe von Beispielen, wie sich seinem Eindruck nach unterschiedliche Begabungen, Gewohnheiten, Charaktereigenschaften im Farbenspiel der Aura ausdrücken, aber auch wechselnde Stimmungen und vorübergehende Emotionen. Dabei ließen sich drei unterschiedliche „Gattungen“ von Farberscheinungen unterscheiden, zunächst solche, die „den Charakter der Undurchsichtigkeit und Stumpfheit“ tragen und wie Nebelgebilde auftreten, dann solche „welche gleichsam ganz Licht sind“. „Sie durchhellen den Raum, den sie ausfüllen.“ Schließlich die dritte Art von Erscheinungen:
Diese haben […] einen strahlenden, funkelnden, glitzernden Charakter. Sie durchleuchten nicht bloß den Raum, den sie ausfüllen: sie durchglänzen und durchstrahlen ihn. Es ist etwas Tätiges, in sich Bewegliches in diesen Farben. Die anderen haben etwas in sich Ruhendes, Unbewegliches. Diese dagegen erzeugen sich gleichsam fortwährend aus sich selbst. – Durch die beiden ersten Farbgattungen wird der Raum wie mit einer feinen Flüssigkeit ausgefüllt, die ruhig in ihm verharrt; durch die dritte wird er mit einem sich stets anfachenden Leben, mit nie ruhender Regsamkeit erfüllt.85
Für Steiner zeigt sich in diesem dreigliedrigen Gefüge, auf welcher Entwicklungsstufe sich der Mensch als Seele zwischen Leib und Geist befindet:
Die erste Aura ist ein Spiegelbild des Einflusses, den der Leib auf die Seele des Menschen übt; die zweite kennzeichnet das Eigenleben der Seele, das sich über das unmittelbar Sinnlichreizende erhoben hat, aber noch nicht dem Dienst des Ewigen gewidmet ist; die dritte spiegelt die Herrschaft, die der ewige Geist über den vergänglichen Menschen gewonnen hat.86
Der Begriff der Bewusstseinsseele erscheint von diesem Text aus gesehen bei Steiner zunächst bildhaft in den Farberscheinungen der Aura. Diese werden dann von ihm nach dem Goethe-Prinzip der Reihenbildung geordnet.87 Er gelangt dabei zu Triaden, die er mit der Folge der Wesensglieder in Beziehung setzt. Und wiederum erscheint hier das goethesche Prinzip des Denkens in Metamorphosen. Steiner stellt dar, wie die Verstandesseele die Erlebnisse der Empfindungsseele denkend verarbeitet und sich mit wachsender Annäherung an die Wahrheit der Welt ihrerseits verwandelt. „Indem die Wahrheit in die Verstandesseele hereinleuchtet, wird diese zur Bewusstseinsseele.“88 Eine anschließende Bemerkung verdeutlicht noch einmal den Zusammenhang: „Die kombinierende Verstandesseele, die in sich lebt, sich in ihren Erlebnissen ganz ihrer Natur unterwirft, prägt sich in der zweiten Aura aus; und die Bewusstseinsseele erhält ihren übersinnlich-sichtbaren Ausdruck in der dritten, am hellsten erstrahlenden Aura.“89 Wir übergehen hier, wie Steiner das nach seiner Auffassung auch für den geistig schauenden Menschen nicht wahrnehmbare Ich des Menschen in der Aura auftreten lässt.90
Wie nun aber ist diese bemerkenswerte Herleitung des Begriffs der Bewusstseinsseele aus dem Zusammenspiel aurischer Farberscheinungen zu erklären? Handelt es sich, wie die von Kaj Skagen kritisierte ‚Doppelgänger‘-Perspektive wohl annehmen würde, um eine phantasievolle Ausschmückung einer aus theosophischer Tradition herzuleitenden abstrusen Theorie? Oder dürfen wir – im Sinne der einleitend charakterisierten Hermeneutik des Wohlwollens – fragen: Sind Steiners nüchtern beschreibende Bemühungen, einer zunächst verwirrend komplexen Erfahrungswirklichkeit zu begrifflicher Klarheit zu verhelfen, ernst zu nehmen? Lohnt es sich, herauszufinden, wie dabei elementare Erlebnisse, die auch für den Begründer der Anthroposophie zunächst rätselhaft und schwer zu bewältigen waren, in der gleichzeitig konzipierten Theosophie von 1904 eine durchaus nachvollziehbare, klare Gedankenform angenommen haben? Helmut Zander bemerkt zu dem Phänomen solcher Detailbeschreibungen, die sich auch anderswo bei Steiner fänden, man stehe „ratlos vor der Frage, wo die Quellen derartig minutiöser Schilderungen liegen“.91 Statt nun aber der Eigenart dieser Schilderungen und den begleitenden Argumenten im Einzelnen nachzugehen und damit der Frage nach den Quellen näher zu kommen, zieht er sich erleichtert darauf zurück, dass Steiner, um seine Offenheit für verwandte Forschungen zu betonen, auf den Theosophen Charles Webster Leadbeater hinweist, bei dem sich ähnliche Schilderungen fänden.92 Er entzieht sich damit der Frage, ob ein detaillierter Vergleich mit diesem Autor ein Verhältnis der Abhängigkeit zwingend nachweist, und vermeidet es, sich auf die Klärung des genannten Rätsels auf dem Wege einer wohlwollenden Hermeneutik ernsthaft einzulassen.
Eine Erwägung der hier aufgeworfenen Fragen könnte sich als hilfreicher Ausgangspunkt für eine unvoreingenommene Würdigung des steinerschen Lebenswerks erweisen. Es sei deshalb hier noch einmal auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen hingewiesen, die, wie wir gesehen haben, das Bilden von Beziehungen als ‚echtes Apriori‘ des menschlichen Bewusstseins beschreibt. Cassirer weist nach, dass der menschliche Geist nicht, wie die Sensualisten unter den Psychologen angenommen haben, disparate Wahrnehmungselemente zu sinnvollen Gebilden zusammenfügt, sondern schon zugleich mit jeder Wahrnehmung einen Sinnzusammenhang erfasst, der sich primär als Ausdruckserlebnis einstellt. „Das ‚Verstehen von Ausdruck‘“, schreibt Cassirer, „ist wesentlich früher als das ‚Wissen von Dingen‘“.93 Im Anschluss an Cassirers Begriff der „symbolischen Prägnanz“94 ließe sich womöglich die Vorstellungswelt Steiners und seiner Schüler völlig neu deuten. Terje Sparby berührt diese Deutungsperspektive mit dem Hinweis auf Steiners Bemerkung, dass Wahrnehmungen auf der Bewusstseinsebene der Imagination „unmittelbar intelligent“ erscheinen (SE, 251). Er schlägt vor,
dies so zu verstehen, wie man eine Geste der Hand oder einen Gesichtsausdruck als unmittelbar verständlich bezeichnen kann, also in dem Sinne, dass die Bedeutung beim Auftreten des visuellen Eindrucks ohne weiteres evident ist. Man muss nicht erst einen besonderen Gedanken entwickeln, um zu verstehen, was ein lächelndes Gesicht bedeutet. Die Bedeutung ist unmittelbar mit dem sinnlichen Eindruck verbunden.95
Lässt sich Steiners Deutung der dritten Aura als Phänomen des ‚Ausdrucks‘ der Bewusstseinsseele im Sinne Ernst Cassirers als Ergebnis eines spontanen Verstehens auffassen, das der begrifflichen Fixierung in Form des Wissens von Dingen vorangeht? Im Zusammenhang der anthroposophischen Psychologie Steiners wäre das jedenfalls plausibel.
Das Ich im Zeitalter der Bewusstseinsseele
Im Jahre 1914 skizziert Steiner in einer gesonderten Vortragsreihe seine Konzeption von den zwölf Weltanschauungen.96 Diese beruht auf der Idee eines Kreises von zwölf prinzipiell möglichen Modalitäten des Wirklichkeitsverständnisses, in welchem jeweils zwei Wahrnehmungs- und Denkweisen (also etwa Materialismus und Spiritualismus, oder Idealismus und Realismus) einander polar gegenüberstehen. Dabei verortet Steiner interessanterweise seine Anthroposophie nicht an einer Stelle des Kreises, um sie damit von anderen Vorstellungen abzugrenzen, sondern verweist stattdessen darauf, dass ein anthroposophisch orientierter Umgang mit dieser Vielfalt der Sichtweisen in übend-meditativer Vertiefung in die Folge der unterschiedlichen Weltanschauungen bestehen könnte, vergleichbar dem Gang der Sonne durch die Bilder des Tierkreises. Vielleicht lässt sich diese bewegliche Art der Vertiefung als Übung in der Tugend der Ambiguitätstoleranz verstehen, der Fähigkeit, unterschiedliche Auffassungen in Geduld nebeneinander bestehen zu lassen.97 Jedenfalls machen die genannten Vorträge deutlich, dass es Steiner mit seiner Annäherung an den Begriff der Bewusstseinsseele nicht darum ging, irgendeine definierbare Art von Weltanschauung festzuschreiben, sondern zum Erproben unterschiedlicher Sichtweisen anzuregen. Der oben erwähnte, von Christian Rittelmeyer und Christoph Gögelein ins Gespräch gebrachte Vorschlag, Steiners Anthroposophie nicht als Weltanschauungslehre, sondern als Heuristik aufzufassen, entspricht dieser Einsicht.98 Eine ähnliche Deutung legt Steiners häufiger Hinweis auf Goethes fragmentarisches Epos Die Geheimnisse nahe, in welchem ein suchender Wanderer einem Kreis von zwölf Vertretern unterschiedlicher religiöser Richtungen begegnet und darin unverhofft die harmonisierende Leitungsfunktion übernehmen soll.99
Es mag mit den erschütternden Zeitumständen zusammenhängen, dass sich der Begriff der Bewusstseinsseele während des Ersten Weltkriegs noch einmal erweitert. Jetzt gelangt Steiner zu der Idee einer ‚geschichtlichen Symptomatologie‘, in welcher der Begriff der Bewusstseinsseele als Formel im Sinne Goethes zum Leitmotiv wird. Zugrunde liegt dabei die oben beschriebene, erst nach der Geheimwissenschaft hervortretende Präzisierung des anthroposophischen Ich-Begriffs. Das „andere Selbst“, von dem in den ‚aphoristischen Ausführungen‘ von 1913 die Rede war (SW, 34),100 das durch Schicksalsereignisse erfahrbar werde, die dem Anschein nach zufällig auftreten, sich im biografischen Rückblick aber als sinnvoll zusammenhängend erweisen, wird jetzt zum Okular für das Verstehen aktueller geschichtlicher Ereignisse. Steiner vollzieht damit einen bemerkenswerten Perspektivenwechsel. Zu Beginn seiner Lehrtätigkeit bei den Theosophen hatte er, in seinem Vortrag über Okkulte Geschichtsforschung von 1903, anschließend an die Geheimlehre H. P. Blavatskys den Geschichtsverlauf als Verwirklichung eines „göttlichen Weltenplanes“ dargestellt, in den das einzelne Ich sich gleichsam dienend einzufügen habe.101 Ab 1916 kommt es ihm darauf an, auf die flüchtigen Eindrücke aufmerksam zu machen, die das ‚andere Selbst‘ im gewöhnlichen Bewusstsein als ‚Symptome‘ aufleuchten lässt. Dabei gehe es nicht um Kausalzusammenhänge, die in abstrakten Begriffen ausgedrückt werden könnten, sondern um bildartige Eindrücke, deren Zusammenhang erst auf dem Wege der Meditation in angemessene Vorstellungen umgesetzt werden könne. Der historische Erkenntnisprozess wird damit für Steiner zu einer Folge von Schicksalserlebnissen. In den Zeitgeschichtlichen Betrachtungen von 1917 bringt er ein anekdotisches Beispiel dafür, an das er später mit der Frage anschließt: „Wie kommen Sie dazu, gerade diese Dinge, die für die Ereignisse der Gegenwart als charakteristisch gelten müssen, im Leben aufgesammelt zu haben?“ Seine Antwort darauf: „Man erlangt im Verlaufe seines Lebens Kenntnis von solchen Dingen, wenn es das Karma mit sich bringt und wenn man wirklich aufrichtig, wahrheitsgemäß dem Karma seinen Lauf lässt.“ Habe man den „freien Blick“ erworben, dann trage einem „der Strom der Welt das zu, was zum Verständnis notwendig ist“.102 Beim Warten auf den imaginativen Zusammenhang der Symptome scheint ihm eine Stimmung spannungsloser Gelassenheit wichtig zu sein, eine Art Schwebezustand, wie er ihn später am Beispiel der Dramenkunst Shakespeares als Vorbedingung für jeden unbefangenen erkennenden Zugang zur Wirklichkeit beschreibt:
Für Goethe wurde Shakespeare der Genius, der ihm in seiner Jugend den Weg in eine ‚neue Welt‘ wies, weil Shakespeare in der dramatischen Menschengestaltung die Notwendigkeit des Naturwirkens mit der Freiheit des Gedankenlebens in jenem Schweben zu halten wusste, das von dem neuzeitlichen Menschen gefühlt werden muss, wenn er im Gedanken nicht die Wirklichkeit verlieren will.103
Während Steiner auf die beschriebene Weise die Merkmale der Bewusstseinsseele und ihres Zeitalters theoretisch immer deutlicher erfasst, arbeitet er ab 1913 als Künstler am Bau des ersten Goetheanums in Dornach. In den Deckengemälden dort erscheinen die in der Geheimwissenschaft beschriebenen ‚nachatlantischen‘ Kulturepochen in repräsentativen farbigen Gestalten. Den sinnbildlichen Vertreter des Zeitalters der Bewusstseinsseele entwirft Steiner als ganz auf sich selbst konzentrierten Meditanten, in einer kühlen Farbmischung aus Weiß und Blau, daneben in großen Buchstaben das Wort „ICH“ und eine bemerkenswerte Nebenfigur, ein Skelett mit einem Buch in der Hand: unverkennbar die klassischen Requisiten der Sinnlosigkeit und des Todes aus Shakespeares Hamlet. Ist es eine zufällige Koinzidenz, dass Steiner hier seinen Bewusstseinsseelenbegriff in Bildern mitteilt, während er im Jahre 1916 in seinem Buch Vom Menschenrätsel betont nach einem neuen Schreibstil sucht, der Wahrheiten ‚in Bildern‘ verkünden soll?104 Mehrfach behandelt Steiner in seinen Vorträgen während des Krieges Francis Bacon und dessen Mitstreiter als Pioniere der modernen Naturwissenschaft. Deren Eintreten für eine nüchterne, von überholten Traditionen befreite Empirie und ihre technische Anwendbarkeit charakterisiert er als Vorbedingung für die Stabilisierung des Ich-Bewusstseins. Die moderne Technik sei in Erscheinung getreten
[…] wegen ihres zum Tode führenden Charakters, weil nur dann, wenn der Mensch hineingestellt ist in eine tote, mechanische Kultur, er durch den Gegenschlag die Bewusstseinsseele entwickeln kann. […] Nicht dadurch wurde das moderne, selbstbewusste Denken groß, dass blühende Lebensprozesse hereingestellt wurden, sondern dadurch wurde gerade das Innerste im Menschen, das selbstbewusste Denken groß, dass Todesprozesse in der modernen Technik, in der modernen Industrie, im modernen finanziellen Zusammenhang in dieses Leben hereingestellt wurden. Denn das forderte dieses Leben in der Bewusstseinsseele.105
Der englische Sprachforscher und Historiker Owen Barfield hat, wie wir oben gesehen haben, in seinen Essays über den Gegensatz von Verstandes- und Bewusstseinsseele die Bedeutung dieses Gedankens für ein aufgeklärtes Verständnis von Steiners Anthroposophie eindrucksvoll illustriert.106
In den Vorträgen, die Steiner während des Weltkriegs gehalten hat, findet sich noch eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffs der Bewusstseinsseele, indem dieser jetzt – wiederum nach dem Vorbild Goethes – in Bezug auf die Polaritäten und Paradoxien des für diese Bewusstseinsstufe charakteristischen Zeitalters beleuchtet wird. Dem konservativen Universalimpuls der katholischen Kirche, den er in der Scholastik des spanischen Theologen Francisco Suárez personifiziert sieht, stellt er den englischen König James I. als Repräsentanten der Freimaurerei gegenüber,107 dem vergleichsweise ruhigen Entwicklungsgang des englischen Parlamentarismus mit seinen globalen Interessen den für die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers entflammten Aufklärungsimpuls Frankreichs. Die in Emotionen und begeisterter Rhetorik steckengebliebene Französische Revolution nennt er „Seele ohne Leib“, den erfolgreichen Diktator und Organisator Napoleon „Leib ohne Seele“.108 Im Oktober 1918 skizziert er mit humoristischem Unterton James I. als paradigmatische Gestalt des Zeitalters der Bewusstseinsseele: einen Menschen, der trotz aller Anfeindungen die Kultur seines Landes nachhaltig geprägt hat, dabei aber in denkbar paradoxen Lebensverhältnissen gefangen war, geplagt von inneren und äußeren Widersprüchen.109
Gegen Ende seines Lebens schließlich, schon auf dem Krankenbett, sieht Steiner in Briefen an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft den zentralen Impuls des Zeitalters der Bewusstseinsseele wirksam in der Gestalt Michaels, des Erzengels und regierenden Zeitgeistes, den er als schweigsamen, nüchternen, zurückhaltenden Helfer und zugleich als strahlende Lichtgestalt charakterisiert.110 Auf den ersten Blick gesehen erscheint in diesen Betrachtungen, mit denen Steiner seinen anthroposophischen Schülern den Zugang zu den religiösen Tiefendimensionen seiner Lehre eröffnet, ein befremdliches Bild: auf der einen Seite der Mystiker des Ich und Verkünder eines neuen Christentums, auf dem Höhepunkt seines sozialen Wirkens, auf der anderen der engagierte Monist der Berliner Jahre mit seiner Absage an jede Art von Religion. Die spannungsreichen Paradoxien, die uns Steiners Begriff der Bewusstseinsseele zumutet, werden an dieser Stelle besonders eindrucksvoll sichtbar. Sie lösen sich auf, wenn wir diesen Begriff in seiner Entwicklung und in seinen Beziehungen zum gesamten Lebenswerk des Begründers der Anthroposophie zu fassen suchen.
Zusammenfassung
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind durchaus vorläufig und bedürfen in vielen Einzelheiten einer kritischen Vertiefung. Gesichert erscheint, dass Steiners Begriff der Bewusstseinsseele zuerst gegen Ende des Jahres 1903 auftaucht, dass er in der Tradition der aristotelischen Schichtenlehre verankert ist, seine spezifische Dynamik jedoch durch die Lehre vom Ich des Menschen gewinnt, wie Steiner sie durch einen jahrelangen Prozess der Selbstvergewisserung im Anschluss an die Weltanschauungslehre Johann Gottlieb Fichtes, an Darwin und Haeckel, Nietzsche und Stirner stufenweise ausgearbeitet hat. Die von Helmut Zander vertretene und in der gegenwärtigen Diskussion weithin akzeptierte These, Steiner habe mit seiner Lehre lediglich die weltanschaulichen Positionen der Blavatsky-Theosophie phantasievoll ausgebaut, lässt sich im Hinblick auf dieses Ergebnis mit guten Gründen anzweifeln und kann keinesfalls als gesichert gelten. Der Begriff der Bewusstseinsseele zeigt sich von ersten, unscheinbaren Bemerkungen an bis zu seiner detaillierten Ausdifferenzierung und seinen breiten sozialen Wirkungen in den späteren Jahren als originäre Errungenschaft, die aus ganz anderen Quellen gewonnen wurde und im Kern allein von ihrem Schöpfer stammt. Im Verlauf der Darstellung hat sich gezeigt, dass eine Interpretation der Philosophie, der Psychologie und der Evolutionstheorie Steiners im Licht der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer in einem schwierigen Forschungsfeld neue Einsichten zutage fördern könnte.